… und die offizielle Online Petition für ein zweites Referendum liegt bereits bei 3,6 Millionen Unterschriften

Das Referendum hat andere Folgen, als Boris Johnson, Michael Gove und Nigel Farage sich das vorgestellt haben. Stündlich müssen Wahlversprechen einkassiert werden. Die angeblichen 350 Million Pfund pro Woche, die statt an die EU nun an den National Health Service überwiesen werden sollten: äh, das wird wahrscheinlich so nicht gehen. Die Einwanderung, die gestoppt werden wird: äh, die Zahl der Immigranten wird wohl insgesamt nicht zurück gehen. Es wird immer offensichtlicher, dass – im Unterschied zum Überzeugungstäter Nigel Farage von der UKIP – Boris Johnson und manche seiner Brexit-Kollegen aus der Tory-Partei insgeheim gar nicht damit gerechnet haben, dass ihre „Vote Leave“ Kampagne erfolgreich sein würde (lustiger Cartoon dazu in der London Times). Jedenfall kann man keinen Plan erkennen. Die aktuelle „Strategie“, den tatsächlichen Austritt zu verzögern, indem man ihn schlicht „noch nicht gleich“ beantragt, ist nicht nur ein Affront gegen die Brexit-Wähler, denen ja mit Slogans wie „Take Control“ und „We want our Country back“ das sofortige Wiederaufleben der gloriosen British Empire Zeiten avisiert worden war. Es verlängert auch die Hängepartie für die eigene Wirtschaft und die nationale Politik, die ja nun einiges zu tun hat. Der englische Gesetzgeber muss ja viele der so ungeliebten EU-Regularien nun durch nationale Regeln ersetzen. Dennoch scheinen es die Brexit-Protagonisten mit dem „Take Control“ plötzlich gar nicht mehr eilig zu haben.

Der englische „Guardian“, eine der führenden Zeitungen auf der Insel, in der politischen Ausrichtung vergleichbar mit der deutschen SZ, nimmt jedenfalls kein Blatt mehr vor den Mund. Im heutigen Kommentar von Nick Cohen „Es gibt Lügner – und dann gibt es Boris Johnson und Michael Gove“ wird Boris Johnson als verantwortungs- und planloser Lügner und Betrüger an seinen Wählern bezeichnet, der „Politik als Spiel“ betreibt. Die britische Presse ist generell wenig zimperlich im Umgang mit Politikern, aber derart harsche Worte sind auch dort nicht alltäglich. Die Murdoch-Presse (The Sun und The Daily Mail) hält zwar dagegen und verlangt die sofortige Umsetzung des Austrittsbeschlusses, aber auch deren Leser werden wohl bemerken, dass ihr Sommerurlaub sowie die Lebenshaltungskosten teurer werden und die Erfüllung der Wahlversprechen, sagen wir, verschoben wurde. Wenn Boris sich also nicht bald etwas einfallen lässt, wird er sehr schnell zerrieben werden von den durch unrealistische Versprechen erzeugten Erwartungen der eigenen Wähler auf der einen Seite und der Wut der Brexit-Gegner in der eigenen Bevölkerung und nicht zuletzt im Parlament, auf der anderen Seite. Die „Anyone but Boris“ Kampagne in seiner eigenen Partei zeugt von vielen offenen Messern in den Taschen seiner Tory-Parteikollegen. Und die Petition für eine zweites Referendum (diesmal mit hohem Quorum) liegt Stand heute bereits bei über 3,6 Millionen Unterschriften. In England existiert bereits das geflügelte Wort für „Bregret“ (Brexit-Regret), also das Bedauern, für den Brexit gestimmt zu haben. Viele geben zu, dass sie nur aus Protesthaltung einen Denkzettel verpassen wolltem, aber nicht damit gerechnet hatten, dass es tatsächlich dazu kommt (siehe Interview Videos dazu hier). Tja, Referendum gelungen, Land im Chaos. Denn es zerlegt sich parallel zu all dem derzeit auch die potentielle Opposition nach allen Regel der Kunst. Dem Labour Vorsitzenden Jeremy Corbyn sind in den letzten zwei Tagen nicht weniger als 11 seiner zentralen Mitstreiter (Schattenkabinett) von der Fahne gegangen. Auch die britischen Sozialdemokraten wissen offenkundig, wie man die Chance auf starke Opposition gründlich im Keim erstickt, indem man sich mit den Befindlichkeiten der eigenen Partei und Personalia beschäftigt.

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