Vergleicht man Urteile in Arzthaftungsprozessen, drängt sich dieser Eindruck auf. Denn scheinbar vergleichbare Fälle enden oft mit gegensätzlichen Richtersprüchen: Im einen Fall geht der Patient leer aus, im Parallelfall wird der Arzt verurteilt und die hinter ihm stehende Haftpflicht muss sämtliche Schäden ersetzen. Liegt der Kunstfehler also tatsächlich im Auge des Betrachters? Und wer ist dann der Betrachter, auf dessen Auge es im Prozess ankommt?  (mehr…)

Es ist kein Geheimnis: Ob der Arzt oder der Patient einen Prozess gewinnt, entscheidet faktisch fast immer (zumindest auch) der Sachverständige. Denn dieser beurteilt den Sachverhalt aus medizinischer Sicht. Doch im Arzthaftungsprozess wird es bereits vorher spannend: Nämlich bei der Frage, ob ein Gutachter überhaupt beauftragt wird und wer dies beantragen (und tausende Euro Vorschuss zahlen) muss. Dreh- und Angelpunkt für den Prozessausgang ist nämlich die Beweislastverteilung – also die Frage danach, wer was beweisen muss.

Im Arzthaftungsprozess muss – so zumindest die Ausgangsregel – alles der Patient beweisen: Zunächst natürlich die Behauptung, dass der Arzt einen Kunstfehler begangen hat, seine Diagnose und/oder Behandlung also nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprochen hat. Das ist schon schwer genug und geht in der Regel nur mit einem Gutachter. Der Beweis eines Behandlungsfehlers (zum Beispiel der Verstoß gegen Hygienevorschriften im Krankenhaus) genügt aber noch nicht für ein Urteil zu Gunsten des Patienten. Dieser muss nämlich ferner beweisen, dass genau dieser Behandlungsfehler für seine jetzigen Beschwerden (also zum Beispiel die Infektion) ursächlich war. Das Krankenhaus kann sich also auf den Standpunkt stellen, dass eine solche Infektion auch hätte eintreten können, wenn die Hygienevorschriften korrekt eingehalten worden wären. Dem Mandanten kann man das meist nur schwer vermitteln.

Allein der Misserfolg einer Behandlung ist erst recht noch kein Beweis für einen Behandlungsfehler. Denn der Arzt schuldet keinen Heilungserfolg, sondern nur eine medizinische Behandlung „lege artis“, also nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Ein Behandlungsfehler liegt erst vor, wenn der Arzt diesen Standard guter ärztlicher Behandlung unterschritten hat. In der Praxis bereitet dieser Nachweis oft erhebliche Schwierigkeiten. Denn die medizinischen Zusammenhänge und Geschehnisse in Krankenhäusern oder Praxen sind für den Patienten nur schwer durchschaubar. Das haben auch die Gerichte erkannt und sog. Beweiserleichterungen zu Gunsten des Patienten entwickelt. D.h., in bestimmten Konstellationen werden Geschehensabläufe vermutet oder die Beweislast umgekehrt. Dies hat zur Folge, dass nun der der Arzt beweisen muss, dass er keinen Fehler begangen hat, bzw. der Fehler nicht ursächlich für den Schaden war. Die wichtigsten Gründe für eine solche Beweislastumkehr sind:

Der grobe Behandlungsfehler:

Grobe Behandlungsfehler sind Fehler, die einem Arzt „schlechterdings nicht unterlaufen dürfen“. Das ist z.B. der Fall, wenn der Arzt eindeutige Symptome eines Herzinfarkts verkennt.

Kann der Patient einen groben Fehler beweisen, wird unterstellt, dass dieser Fehler für den behauptetet Schaden ursächlich war. Als Folge muss sich nun der Arzt entlasten. Nun muss er beweisen, dass der grobe Behandlungsfehler nicht ursächlich für den Schaden ist.

Die unterlassene oder lückenhafte Dokumentation

Versäumt es der Arzt, erforderliche Behandlungen und Maßnahmen in der Patientenakte zu dokumentiert, wird angenommen, dass diese unterlassen wurde. Kann der Arzt keinen anderweitigen Beweise für die Vornahme der Maßnahme führen (z.B. durch Zeugen), wird der Behandlungsfehler vermutet.

Verstoß gegen Befundsicherungspflicht:

Ärzte und Krankenhäuser sind verpflichtet, Patientenunterlagen für bestimmte Zeiträume aufbewahren. Die Aufbewahrungsfristen (meist 10 Jahre) sind großteils in der (Muster-) Berufsordnungen für die dt. Ärztinnen und Ärzte geregelt. Kann ein Patient einen Behandlungsfehler nur deshalb nicht beweisen, weil Unterlagen vor Ablauf der Aufbewahrungspflicht vernichtet bzw. ohne ausreichende Dokumentation an andere Stellen weitergeleitet wurde, so können ihm Beweiserleichterungen zugute kommen.

Zur Veranschaulichung: Ein Patient klagt über Schmerzen im Brustbereich. Der Arzt lässt ein EKG erstellen und bestellt den Patienten für Nachmittag erneut in die Praxis. Bevor der Patient die Praxis aufsucht, unterliegt er einem Herzinfarkt. Im anschließenden Prozess besteht Streit darüber, ob der Befund auf dem Kardiogramm erkennbar war oder nicht. Kann der Arzt das EKG im Prozess nicht vorlegen, geht dies zu seinen Lasten. Je nach Fallgestaltung kann dies soweit führen, dass die Erkennbarkeit des Befunds unterstellt wird.

Der Anscheinsbeweis:

Beim Anscheinsbeweis wird vermutet, dass ein bestimmtes Ereignis eine bestimmt Folge nach sich gezogen hat. Voraussetzung dieser Vermutung ist allerdings, dass sich um einen typischen Geschehensablauf handelt, der nach der Lebenserfahrung (immer) eine bestimmte Folgen auslöst. Ein Beispiel: Ein Patient erleidet nach der Behandlung mit einem Hochfrequenzchirurgiegerät Verbrennungen. Hier wird unterstellt, dass die Verbrennungen auf dem Einsatz des Geräts beruhen. Der Patient muss also nicht mehr beweisen, dass seine Verletzungen Folgen der Behandlung sind.

Fehler im Bereich der sog. „voll beherrschbare Risiken“

Wie eingangs bereits erläutert, schuldet der Arzt keinen Heilungserfolg. Denn der Erfolg eine Behandlung hängt von vielen Unwägbarkeiten ab (z.B. gesundheitliche Konstitution, Lebensgewohnheiten des Patienten), die vom Mediziner nicht beeinflusst werden können.

Etwas anderes gilt dann, wenn der Erfolg oder Misserfolg medizinischer Maßnahmen nicht von solchen Unwägbarkeiten abhängt – also im Bereich der sog. „voll beherrschbaren Risiken“. Das sind Bereiche, die bei sachgerechter Organisation kontrolliert werden können bzw. müssen. Klassische Beispiele sind das Hygienemanagement, die Funktionsfähigkeit medizinische Geräte sowie die Aufbewahrung und Lagerung von Materialien und Medikamenten. Treten in diesem Bereich Schäden auf, muss der Arzt beweisen, dass er für die Folgen nicht verantwortlich ist. Auch hier ein Beispiel:

Eine Patientin erlitt einen Spritzenabszess, der auf einer Staphylokokken-Infektion beruhte. Ausgangsträgerin der Keime war eine Arzthelferin, die an Heuschnupfen litt und bei der Verabreichung der Spritzen assistierte. Der BGH verurteile den Arzt wegen des unzulänglichen Hygienemanagements. Denn dieser konnte nicht nachweisen, dass die Keimübertragung auch bei Anwendung aller zumutbaren Präventivmaßnahmen hätte verhindert werden können.

Die o.g. Beispiele zeigen, dass Arzthaftungsprozesse oftmals nur deshalb gewonnen werden, weil dem Patienten Beweiserleichterungen zu Gute kommen. Ob ein KUNSTfehler vorliegt, wird daher nicht nur vom Sachverständigen entschieden.